- Die russischen Behörden schreiben den russischen Lehrplan und Kreml-Propaganda in den ukrainischen Schulen in den besetzten Gebieten vor und gehen gegen Schulpersonal vor, das sich weigert, diesen Lehrplan umzusetzen.
- Russland sollte alle Maßnahmen zur Russifizierung des ukrainischen Bildungssystems einstellen; die ukrainischen Behörden und ausländische Geber sollten mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, damit Kinder auch während der Besatzung oder der Vertreibung weiter lernen können.
- Das Völkerrecht verpflichtet jede Besatzungsmacht zur Wiederherstellung von Dienstleistungen in den besetzten Gebieten, verbietet ihr aber, hierbei ihre eigenen Gesetze anzuwenden, auch im Bildungsbereich.
(Kiew, 20. Juni 2024) - Die russischen Behörden unterdrücken die ukrainische Sprache und ukrainische Lehrinhalte, indem sie den russischen Lehrplan, anti-ukrainische Propaganda und Russisch als Unterrichtssprache in Schulen in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine einführen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Diese Maßnahmen verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht. Diese verbieten es einer Besatzungsmacht, unnötige Änderungen an Gesetzen im besetzten Gebiet vorzunehmen. Das Vorgehen Russlands verstößt auch gegen internationale Menschenrechtsstandards zum Recht auf Bildung.
Der 66-seitige Bericht „Education under Occupation: Forced Russification of the School System in Occupied Ukrainian Territories“ dokumentiert Verletzungen des Völkerrechts durch die russischen Behörden bezüglich des Rechts auf Bildung in den ehemals besetzten Gebieten der ukrainischen Region Charkiw und in anderen Regionen, die weiterhin unter russischer Besatzung stehen. Die russischen Behörden haben Änderungen des Lehrplans erzwungen und Schulpersonal, das sich weigerte, diese Änderungen umzusetzen, bedroht, inhaftiert und sogar gefoltert. Human Rights Watch dokumentierte außerdem, dass die Besatzungsbehörden Eltern bedrohten, deren Kinder online dem ukrainischen Lehrplan folgten.
„Russland sollte aufhören, ukrainischen Kindern ihr Recht auf Bildung zu verweigern, das ihnen nach dem Völkerrecht zusteht“, sagte Bill Van Esveld, stellvertretender Direktor für Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Es sollte sofort alle Bemühungen einstellen, das Bildungssystem zu russifizieren und politische Indoktrination in den besetzten Gebieten der Ukraine zu betreiben.“
Human Rights Watch sprach mit 42 Pädagog*innen, Schulangestellten und andere Beamt*innen in der Region Charkiwska, nachdem die russischen Streitkräfte das Gebiet im September 2022 verlassen hatten, und interviewte Lehrkräfte, die aus den derzeit besetzten Gebieten der Regionen Chersonska, Saporischka, Donezk und Luhanska vertrieben wurden oder geflohen waren.
Ukrainische Expert*innen schätzen, dass sich noch eine Million ukrainischer Kinder im schulpflichtigen Alter in den von Russland besetzten Gebieten aufhalten. Daten, die das ukrainische Ministerium für Bildung und Wissenschaft Human Rights Watch zur Verfügung gestellt hat, zeigen, dass mehr als 62.400 Kinder, die in den besetzten Gebieten leben, weiterhin online am Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teilnehmen.
Das Völkerrecht verpflichtet eine Besatzungsmacht, die öffentliche Ordnung und die Dienstleistungen in den jeweils besetzten Gebieten wiederherzustellen, darunter auch die angemessene Schulbildung von Kindern. Die Besatzungsmacht muss hierbei die Gesetze respektieren, die in dem Gebiet vor der Besetzung galten. Es ist ihr untersagt, ihre eigenen Gesetze einzuführen, einschließlich der Bildungsgesetze.
Der in den besetzten Gebieten auferlegte russische Lehrplan enthält Geschichtslehrwerke, welche die russische Invasion rechtfertigen, die Ukraine unter ihrer derzeitigen Regierung als „Neonazi-Staat“ darstellen und den Unterricht in ukrainischer Sprache stark einschränken. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes garantiert das Recht der Kinder auf eine Erziehung, welche die Achtung vor der „eigenen kulturellen Identität, der eigenen Sprache und den eigenen Werten“ sowie den „nationalen Werten“ des Herkunftslandes des Kindes fördert. Russlands Änderungen im Bildungswesen in den besetzten Gebieten verstoßen auch gegen weitere internationale Menschenrechtsstandards, darunter das Verbot von Kriegspropaganda, das Recht des Kindes auf muttersprachlichen Unterricht und das Recht der Eltern, über die Bildung ihrer Kinder zu entscheiden.
Ukrainische Kinder in den betroffenen Gebieten erhalten zudem als Teil des Lehrplans eine militärische Ausbildung. Die Menschenrechtsbeobachtungsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine berichtete, dass die russischen Behörden von den weiterführenden Schulen in den besetzten ukrainischen Gebieten verlangen, die Namen aller Schüler ab 18 Jahren zu übermitteln, die nach Ansicht der russischen Behörden für die Einberufung in das russische Militär in Frage kommen.
Human Rights Watch stellte fest, dass die Besatzungsbehörden Vergeltungsmaßnahmen gegen alle ergreifen, die die russische Invasion kritisieren. Dies geschieht auch an Schulen. Die russischen Behörden und ihre Bevollmächtigten bestrafen alle, die online dem ukrainischen Lehrplan folgen oder diesen unterrichten. Eltern drohen Geldstrafen, der Verlust des Sorgerechts für ihre Kinder und ihre Inhaftierung, wenn sie ihre Kinder nicht in „russischen“ Schulen anmelden oder wenn ihre Kinder online dem ukrainischen Lehrplan folgen.
Die Besatzungsbehörden setzten zudem ukrainische Lehrkräfte unter Druck, inhaftieren, misshandeln und foltern sie, um sie so zur Zusammenarbeit oder zur Herausgabe von Schülerakten und anderen Schuldaten zu zwingen. Der Bericht dokumentiert die einwöchige Inhaftierung unter schrecklichen Bedingungen eines Schulleiters aus dem Dorf Borivske in der Region Charkiw, der von Sicherheitsbeamten wiederholt geschlagen wurde, weil er sich weigerte, Informationen über seine Schule herauszugeben.
„Die russischen Behörden sollten sicherstellen, dass der Unterricht in den besetzten Gebieten der Ukraine nach ukrainischen Lehrplänen und ukrainischem Recht erfolgt“, sagte Van Esveld. „Sie sollten alle Besatzungskräfte zur Rechenschaft ziehen, die für die Belästigung und Misshandlung von und den unangemessenen Druck auf ukrainische Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern verantwortlich sind.“